Bulgaren nahmen ihm das Augenlicht und sperrten ihn in einen Turm
Eigentlich hätte Balduin (1171–1206?) als Graf von Flandern und Hennegau ein behagliches Leben in seinem Palast führen können. Einige erfolgreiche Feldzüge hatten die Verluste seines Erbes wettmachen können. Die Produktion von Tuchen, auf die sich die Städte der Region spezialisiert hatten, versprach nicht nur sichere, sondern glänzende Einnahmen. Und seine poesiebegeisterte Frau Marie von Champagne zog Literaten und Künstler an seinen Hof.
Aber Balduin gab all das auf für eine Idee: Jerusalem sollte von den Muslimen befreit werden, die die Stadt 1187 unter Saladin zurückerobert hatten. Kaum war es Balduin im Jahr 1200 gelungen, Lillers, Aire und Saint-Omer Philipp II. von Frankreich abzuringen, nahm er das Kreuz. Es sollte allerdings noch zwei Jahre dauern, bis sich das Kreuzfahrerheer auf den Weg ins Heilige Land machte.
Dieser Vierte Kreuzzug sollte die Vision endgültig diskreditieren, die ihm zugrunde lag. Denn mangels ausreichender Mittel nahmen seine führenden Barone, zu denen auch Balduin zählte, das heikle Angebot der Republik Venedig an, sie mit Schiffen in den Orient zu bringen. Dafür verlangte der Doge Enrico Dandolo die exorbitante Summe von 85.000 Mark Silber sowie die Hälfte des zu erobernden Gebiets.
Da sich der Zustrom zu dem riskanten Unternehmen in Grenzen hielt, Venedig jedoch auf die Bezahlung pochte, ließen sich die Kreuzfahrer auf den Vorschlag ein, die (christliche) Stadt Zara (Zadar) für die Serenissima zu erobern. Als die Beute den Forderungen immer noch nicht entsprach, rückte die Hauptstadt des Byzantinischen Reiches, Konstantinopel, ins Visier. Die bot den Vorteil, dass sie näher lag und von internen Machtkämpfen erschüttert wurde.
Die Metropole des Reiches, das Europa so lange vor Invasionen aus dem Osten geschützt hatte, wurde erobert und brutal ausgeplündert. Doch den Rittern war dies nicht genug. Ein Lateinisches Kaiserreich sollte die Nachfolge von Byzanz antreten. Da ihnen der Anführer Bonifatius I. von Montferrat zu ehrgeizig war, setzten die Venezianer auf einen leichter zu lenkenden Kandidaten: Am 9. Mai 1204 wurde Balduin I. in Konstantinopel zum Kaiser gekrönt.
Damit hatte er einen großartigen Titel, der allerdings in keinem Verhältnis zu seinen Machtmitteln stand. Denn seine Ritter verlangten nach Lehen, die allerdings in Gegenden lagen, die erst noch erobert werden mussten. Wie konfus die Lage war, bewies ausgerechnet Balduins Frau Marie. Sie hatte sich mit einer eigenen Flottille nach Palästina eingeschifft, wo sie auch anlangte und umgehend die Huldigung der dortigen Machthaber entgegennehmen durfte. Die hofften schließlich auf die Unterstützung des neuen Kaisers. Doch die blieb aus. Marie, die bald darauf starb, sollte das einzige Mitglied der kaiserlichen Familie sein, das das Heilige Land erreichte.
Balduin hatte sich nicht nur mit Venezianern und Griechen herumzuschlagen, sondern auch mit Bonifatius, der seine Wahlniederlage nicht verwinden mochte. Der Versuch, diesen mit der Eroberung von Thessaloniki zufriedenzustellen, führte zu einem Aufstand in Thrakien, der vom Khan der Bulgaren unterstützt wurde. Dessen leichte Reiter lockten die schwer gepanzerten Ritter Balduins im April 1205 bei Adrianopel in eine Falle, was das neue Kaisertum seiner besten Kämpfer beraubte.
Balduin wurde gefangen genommen und, um ihn endgültig zu entmachten, seines Augenlichts beraubt. Dann wurde er in Weliko Tarnowo am Nordabhang des Balkangebirges interniert, wo noch heute der Balduin-Turm zu sehen ist. Dort soll er nach einigen Monaten gestorben sein. Sein Kaiserreich sollte mehr schlecht als recht noch bis 1261 vor sich hin dämmern, bis es von den Griechen erobert wurde.
Dieser Artikel wurde erstmals im Mai 2021 publiziert.
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